Grundbegriffe der Akupunktur (1): Ursprung und Hintergründe

Die TCM strebt nach dem Ausgleich aller inneren Kräfte © Patricia Lösche

Es gibt sie, die magischen Momente: Kaum ist die erste Nadel gesetzt, geraten einige Tiere in einen fast komatösen Dämmerzustand. Der Muskeltonus ist stark herabgesetzt und es entsteht der Eindruck tiefen Friedens. Akupunktur ist längst eine feste Größe im Kanon naturheilkundlicher Behandlungsmethoden, auch in der Tiermedizin. Die Akzeptanz ist gewachsen, der Begriff im deutschen Wortschatz angekommen. Trotzdem können sich die meisten Tierbesitzer wenig darunter vorstellen. In lockerer Folge wollen wir darum Akupunktur verständlicher machen. Im ersten Teil unserer Serie geht es um Ursprung und Grundlagen zum allgemeinen Verständnis.

Die chinesische Medizin, außerhalb Chinas als traditionelle chinesische Medizin (TCM) bezeichnet, ist eine der ältesten Behandlungsmethoden der Welt. Überlieferungen gehen zurück bis ins 3. vorchristliche Jahrtausend. Standardwerk der chinesischen Medizin ist das Nei Jing, dessen Titel übersetzt werden kann als „Das Buch des gelben Kaisers zur inneren Medizin“. Der erste Teil, insgesamt neun Bände umfassend, wird auf die Zeit zwischen ca. 2700 bis 2600 v. Chr. datiert. Das Alter der neun weiteren Bände ist noch nicht geklärt, es gilt jedoch als gesichert, dass sie im Laufe von Jahrhunderten als Interpretationen, Erläuterungen und Ergänzungen angefügt wurden. Gültige Grundlage ist das Gesamtwerk bis heute. Die Behandlung mit Akupunktur erfolgt immer unter Anwendung darin beschriebener Diagnose- und Therapie-Prinzipien.

Blick auf die Westliche Schulmedizin

In der westlichen Welt zerstörte machtorientierte Kirchenpolitik im Laufe der Jahrhunderte überliefertes Wissen durch systematische Diskriminierung und inquisitorische Verfolgung erfolgreicher Heiler und Heilerinnen. Quacksalber und zwielichtige Bader hatten dagegen eine gute Zeit. Leben und Tod waren gottgegeben und fielen deshalb nach dem Selbstverständnis der Kirche ausschließlich in ihren Zuständigkeitsbereich. Seuchen entvölkerten ganze Landstriche. Was heute unter dem Begriff der Volksmedizin zusammengefasst wird, führte über viele Generationen hinweg ein Schattendasein im Bannkreis der Illegalität oder hinter Klostermauern, oft unerreichbar für das gemeine Volk. Erst seit relativ wenigen Jahren gibt es eine vorsichtige Rückbesinnung auf altes Therapie-Wissen. Hier und da bröckeln die Fronten zugunsten eines wünschenswerten Synergieeffektes zwischen Tradition und Fortschritt, auch in der Tiermedizin.

Mit Rudolf Virchow (Zellularpathologie, 1858) und Claude Bernard (Experimentelle Medizin, 1865) begann in der Medizin eine neue Zeitrechnung. Krankheit wurde ursächlich erforscht, nicht mehr symptomatisch betrachtet, war kausal-analytisch zu verstehen und mit Medikamenten zu behandeln. Ursache war immer die Störung von Zellfunktionen. Die Krankheit kam unter das Mikroskop: Es war die Geburtsstunde westlicher Schulmedizin. Die über Jahrhunderte betriebene Sanktionierung alter Heilmethoden, der damit einher gehende Verlust medizinischen Wissens und Siegeszug obskurer Heilmethoden kann als das Substrat gelten, auf dem die Ablehnung naturheilkundlicher Methoden durch die Schulmedizin wachsen konnte. Dabei hat verantwortungsbewußte und vor dem Hintergrund fundierten Wissens betriebene Naturheilkunde mit Scharlatanerie ebenso wenig zu tun wie sie.

Tradition in der Akupunktur

Ein Problem, mit dem der asiatische Raum in dieser Form nicht konfrontiert war. Dort wurde Traditionen niemals in vergleichbarer Weise der Nährboden entzogen. Im Gegenteil. Behandlungskonzepte im Rahmen der chinesischen Medizin haben einen langen überlieferten Stammbaum. Damit hatten Generationen chinesischer Ärzte über Jahrtausende Gelegenheit, ihre diagnostische und therapeutische Methodik auf Wirksamkeit hin zu überprüfen und von den empirischen Beobachtungen ihrer Vorgänger zu profitieren.

In Ostasien, dem ursprünglichen Verbreitungsgebiet chinesischer Heilkunst und ihrer nationalen Derivate, war und ist die chinesische Medizin als fester Bestandteil von Kultur und Philosophie integriert in den Lebensalltag. Bekannt sind die Bilder kollektiver Gymnastik während der Arbeitspause, oft als Massenveranstaltung, hier undenkbar. Dass Bewegung wichtig ist für Gesundheit und körperliche Ausgeglichenheit ist in der TCM lange bekannt und Bewegung ist eine ihrer fünf tragenden Therapie-Säulen.

Akupunktur ist ein eigenständiges, hoch komplexes, in sich schlüssiges ganzheitlich-regulatives Therapiesystem mit weitreichenden Möglichkeiten. Es steht damit nicht in Opposition zur westlichen Schulmedizin, sondern eher neben ihr. Kein Entweder-Oder, sondern ein Sowohl-als auch. Die Übertragung von Systeminhalten in einen anderen Kulturraum ist aber zwangsläufig mit Verständnisproblemen behaftet. Chinesisch ist nicht nur eine Fremdsprache, chinesisch hat den Hintergrund einer uns fremden Kultur mit anderen Denk-Schemata. Es ist eine bildreiche Sprache und die TCM-Diagnosen sind so bildhaft wie die Sprache selbst. Viele der verwendeten Ausdrücke erscheinen in der Übersetzung sonderbar und verwirrend, was die Akzeptanz erschwert. Wer nicht mit der Materie vertraut ist, kann sich unter der Diagnose „Leber-Yang kann durch die geschwächte Erde nicht gezügelt werden“ oder „Rebellierendes Magen-Qi aufgrund von Trockenheit und Hitze“ etwas vorstellen. Es gibt in der westlichen Medizin nichts Vergleichbares. Aus Mangel an Wissen geht da schon mal der Zeigefinger an die Stirn und wunderbare Möglichkeiten zur Behandlung von Krankheiten bleiben ungenutzt.

Organe in der TCM

Wer chinesische Medizin mit der westlichen Schulmedizin analogisieren will, ist auf dem falschen Weg. Sie ist ein in sich geschlossenes System, das mit unserem gedanklich und begrifflich kaum kompatibel ist, weil es ausschließlich in funktionellen Zusammenhängen denkt und handelt. Ein Beispiel dafür sind die Organe. Die TCM kennt keine Anatomie in unserem Sinne. Irreführender Weise jedoch Organbezeichnungen. Ein chinesisch arbeitender Therapeut oder Arzt spricht sehr wohl von Herz, Lunge, Milz oder Magen. Meint aber nicht die stofflich-anatomischen Strukturen, nicht jene genau lokalisierten Organe, von denen schulmedizinisch arbeitende Ärzte sprechen.

Für ihn sind Organe Funktionssysteme. Er muss nicht wissen wo sie liegen, nicht wie sie aussehen oder was für chemische Prozesse darin vorgehen. Von Bedeutung sind ausschließlich die Funktionen, die die TCM ihrer Idee vom Magen zugeordnet hat (welche das sind, wird in einer anderen Folge besprochen), und ihre Rolle im System. Es geht um das harmonische, funktionelle und dynamische Zusammenspiel aller Aspekte eines Körpers, nicht um Organe, die Aufgaben erfüllen.

Erhaltung der funktionellen Harmonie des Körpers

Hauptanliegen in der TCM ist die Wiederherstellung und Erhaltung der allgemeinen Harmonie aller Körperfunktionen. Eine große Stärke der chinesischen Medizin ist das Erkennen subklinischer Disharmonien und ihre Behandlung bevor der Patient erkennbar krank ist. Vielleicht ist er nur etwas müder als sonst oder schläft schlechter, ist unerwartet aggressiv oder spielt nicht mehr so gerne. Nichts, womit man zu einem Tierarzt in die Praxis gehen würde. In der TCM oder auch TCVM (Traditionelle chinesische Veterinärmedizin) ist das genau der Moment, in dem man sich spätestens in Behandlung begeben sollte, denn unbehandelt wird daraus eine ernsthafte Erkrankung entstehen. Irgendwo im System läuft ein Rädchen nicht rund. Da alle Rädchen miteinander verbunden sind, hat jedes noch so kleine von ihnen Auswirkungen auf das gesamte System und ist niemals isoliert zu betrachten. Es ist wie der sprichwörtliche Flügelschlag des Schmetterlings, der weit entfernt eine Katastrophe auslöst. Je länger die Störung besteht, desto schwerer sind die Auswirkungen auf das System.

Am besten ist die regelmäßige Kontrolle auch ohne Anlass, denn bei wem ist schon immer alles im Lot, auch wenn er sich nicht krank fühlt. Ein sehr aktueller Ansatz: Prävention vor Therapie. Ein Jahrtausende altes Prinzip der TCM. Im Rahmen seiner Diagnostik muss der behandelnde Therapeut die Disharmoniemuster des Patienten erkennen und behandeln. Im Falle der Akupunktur geschieht das durch Setzen von Reizen durch Nadeln, Akupunkturlaser oder Elektroakupunktur an bestimmten, in ihrer Wirkung genau beschriebenen Punkten des Körpers.

In der nächsten Folge: Die Bedeutung von Yin und Yang

Dozenten und Autoren ATM - Autorin Patricia Lösche

Patricia Lösche

Patricia Lösche ist freie Autorin, Text- und Bild-Journalistin. Der Dolmetscher-Ausbildung folgten Biologie- und Journalistik-Studium, freier und redaktioneller Journalismus für verschiedene große Verlage. Später dann die Ausbildung zur Tierheilpraktikerin an der ATM und die Tierpsychologie-Ausbildung an der ATN. Empathie, Achtung und Verständnis auf Augenhöhe im Umgang mit Tieren sind Patricia Lösche ein besonderes Anliegen. Seit 2014 schreibt sie für ATM und ATN Blogbeiträge, ist Autorin von Skripten und betreut als Tutorin die Studierende unterschiedlicher Fachbereiche.

In die Wissensvermittlung fließen mehrjährige Praxis-Erfahrungen aus der naturheilkundlichen Behandlung von Pferden, Hunden und Katzen ebenso ein, wie die jahrzehntelange Erfahrung eigener Tierhaltung. Sie ist Mitglied im Fachverband niedergelassener Tierheilpraktiker (FNT) und 1.Vorsitzende im Berufsverband der Tierverhaltensberater und –trainer (VdTT).

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