Faszien beim Tier: Faszinierende Netzwerke

Faszien beim Tier: Faszinierende Netzwerke – Patricia Lösche

Dass Manualtherapeuten oder Akupunkteure von außen innere Organe und Körperstrukturen behandeln können, erscheint zunächst befremdlich. Gäbe es nicht das Netz aus Faszien, wäre das auch schwer möglich. Faszien – das ist der Oberbegriff für das Bindegewebe im Körper. Wie bei einem Zelt sind deren hauchdünne und doch extrem feste, flächige Anteile mit Spannseil-ähnlichen Strukturen an bestimmten Punkten verankert. Im Körper sind das Sehnen, Muskeln und Bänder. Zieht man an einer dieser „Spannleinen“ oder übt Druck auf eine Fläche aus, verschiebt sich das gesamte „Zelt“, weil alles miteinander verbunden ist.

Kraftvolle, koordinierte Bewegungen wären ohne Faszien nicht möglich (© herbert2512 – Pixabay)

Faszien – ein leistungsstarkes Netzwerk

Lange wurde dem Bindegewebe nicht viel Bedeutung zugemessen. Das hat sich geändert. Denn Faszien sind viel mehr als „nur“ Bindegewebe, das die Komponenten des Bewegungsapparates zusammenhält und Organe gegeneinander abgrenzt. Sie verbinden nicht nur im Großen, sondern auch Zellen miteinander, sie grenzen anatomische Strukturen gegeneinander ab, sammeln Informationen über die Lage des Körpers im Raum und koordinieren Bewegungen, speichern Energie, umgeben die inneren Organe und kommunizieren permanent mit dem Gehirn. Nicht nur Knochen und Muskeln des Bewegungsapparates, auch Bewegungsapparat und Organsysteme sind über die Faszien miteinander verbunden. Kommt es in einem der beiden Systeme zu einer Störung, wirkt sich das auch auf das andere System aus.

Darüber hinaus umhüllen Faszien Blutgefäße, Lymphgefäße und Nerven, über die der Körper mit Nähr- und Botenstoffen versorgt wird und über die Stoffwechselendprodukte zur Entsorgung abtransportiert werden. Ist dort das Bindegewebe in der Funktion eingeschränkt, beispielsweise weil permanent zu viel Druck oder Zug ausgeübt wird, kommt es zum Lymphstau, die Nerven werden gereizt und Schmerz entsteht. Blutgefäße werden eingeengt und können dadurch Organe oder Muskulatur nicht mehr ausreichend mit Blut versorgen. Nährstoffmangel und Sauerstoffunterversorgung in den betroffenen Geweben sind die Folge. Gleichzeitig stockt der Abtransport von Stoffwechselprodukten und deren Konzentration im betroffenen Gewebe steigt. Hält diese Situation länger an, kann dies zu Schäden des Gewebes bis hin zum Gewebeuntergang führen. In der Osteopathie und Chiropraktik spielen diese funktionellen Aspekte eine zentrale Rolle.

Man könnte es mit der Stromversorgung in einem Haus vergleichen. Über die Steckdose in der Wand werden Geräte mit Strom versorgt. Ist aber die Steckdose defekt, wird die angeschlossene Lampe nicht leuchten. Entsteht an der Lampe ein Kurzschluss, dann wird (hoffentlich) im Keller die Sicherung herausspringen, obwohl viele Meter oder sogar Stockwerke dazwischen liegen. In Folge funktioniert dann nicht nur die Lampe nicht mehr, sondern auch alle anderen angeschlossenen Geräte.

Akupunkturnadeln wirken über die Faszien auch auf Organe und entfernte Körperregionen (© Martin Schlecht – stock.adobe.com)

Faszien verbinden Organe und Bewegungsapparat

Nicht nur funktionell sind Körperstrukturen über die Faszien verbunden, sondern auch die Steuerung von Organen und Bewegungsapparat hängt mit ihnen zusammen. Permanent senden die Faszien Informationen an das Gehirn. Aber all das erklärt noch immer nicht, warum zum Beispiel Akupunkturnadeln, die man an Hand oder Pfote platziert, auf andere Bereiche im Körper oder sogar auf innere Organe wirken.

Um das verstehen zu können, müssen wir uns die embryonale Entwicklung eines Säugetieres ansehen. Aus dem anfänglichen Zellhaufen mit dicht aneinander gelagerten gleichen Zellen differenzieren sich nach und nach die unterschiedlichen Gewebe. Manche werden zu Organen, andere zu Knochen, Muskeln, Nerven. Der Embryo wächst und die Zahl der Zellen nimmt zu, die unterschiedlichen Körperregionen trennen sich nicht nur funktional, sondern auch räumlich voneinander. Immer umgeben von den mitwachsenden Faszien. Wie ein Baum, der ursprünglich aus einem Keim entsteht, strecken sich nach und nach Äste in die Peripherie, bleiben aber mit dem Stamm als Zentrum verbunden.

Im Laufe der embryonalen Entwicklung entstehen „scheibchenweise“ (metamer) zusammenhängende Funktionseinheiten. Deutlich wird das an der Wirbelsäule. Umgeben von den knöchernen Wirbeln verlaufen die vom Gehirn kommenden Nerven im Wirbelkanal nach unten. Dabei verlässt von jedem Wirbel aus ein Nerv (Spinalnerv) diesen Rückenmarkskanal und verzweigt sich im Gewebe des Körpers. Über diese neuronale Verbindung steuert das Gehirn Körperfunktionen und bekommt Feedback über den aktuellen Körperstatus. Um bei dem Vergleich mit dem Baum zu bleiben: jeder große Ast (Spinalnerv) bringt jeweils kleinere Äste hervor, die dann im Körper einen bestimmten Bereich der Haut, der Organe und der Muskulatur neuronal versorgen. Der nächste folgende Ast, der vom Stamm abgeht – gemeint ist der Spinalnerv -, versorgt dann wiederum einen anderen Bereich von Haut, Organen und Muskulatur. Diese Verbindung über den gemeinsamen Nerv kann dazu führen, dass es bei Problemen mit einem Organ zu einer Veränderung des dazugehörigen Hautareals kommen kann (z.B. Rötung, Schwitzen, Haare aufstellen), die von diesem weit entfernt liegen kann. Diese Hautzonen (Dermatome) sind bei jeder Säugetierart ungefähr gleich und können eine Hilfe bei der Diagnostik darstellen (Head´sche Zonen).

Faszien in der ganzheitlichen Betrachtung

Störungen, wie Schmerzen oder Stress, können sich über diese Zusammenhänge in der Körperkommunikation auf das gesamte System auswirken. Nehmen wir Schmerz. Faszien haben mehr Schmerzrezeptoren als Muskeln oder Knochen. Sie sind verbunden mit dem vegetativen Nervensystem, das Körperfunktionen steuert. Zudem haben sie ein Schmerzgedächtnis. Und wie wir weiter oben gesehen haben, besteht eine direkte Verbindung zum Gehirn, das (auch) über die Faszien Informationen über Körpervorgänge erhält.

Befindet sich der Organismus in einem permanenten Schmerzzustand, schaltet der Körper in einen anhaltenden Ausnahmemodus. Stresshormone, wie z.B. Kortisol und Adrenalin werden ausgeschüttet, mit längerfristig negativen Auswirkungen auf den Körper. Das kann zum Beispiel zu einer schlechten Immunkompetenz führen, weil Stresshormone das Immunsystem schwächen. Auch die Muskulatur befindet sich in einem Zustand der erhöhten Grundspannung und wird aufgrund der erschwerten Durchblutung schlechter versorgt. Beim Tier kann Appetitlosigkeit (Inappetenz) eine Folge von Schmerzen oder Stress sein, was wiederum zu negativen Folgen bezüglich der Verdauung (z.B. Kolik durch Aufgasungen bei Pferden) oder des Leberstoffwechsels (beispielsweise bei Katzen) führen kann. Denn auch der Darm ist ja in das Fasziennetzwerk eingebunden. Eine langfristig gestörte Verdauung kann durch Veränderungen des Mikrobioms das Immunsystem zusätzlich belasten. Gerade für Pflanzenfresser mit Ihren großen Gärkammern, in denen das Futter vorverdaut wird (z.B. Pferde, Kaninchen) spielt ein intaktes Mikrobiom eine existentielle Rolle.

Die ganzheitliche Therapie beim Tier

Ganzheitliche Ansätze und Behandlungsformen wie Tierphysiotherapie oder Akupunktur können systemisch Schmerzen auf unterschiedlichen Wegen beeinflussen. Hierbei führt eine Manipulation an verspannten bzw. verklebten Faszien auf physikalischem Wege zu einer lokalen Entspannung und somit zu einer Wiederherstellung der physiologischen Versorgung in Bezug auf Durchblutung, Lymphabfluss und Reizleitung der versorgenden Nerven.

Faszienarbeit: Verspannungen aufspüren und lösen durch Manualtherapi (© Patricia Lösche)

In der Chiropraktik konzentriert sich die Manipulation insbesondere auf den Bereich an der Wirbelsäule, weil dort die Spinalnerven den Rückenmarkskanal verlassen. An dieser Stelle können die Nerven durch eine verspannte Muskulatur irritiert werden, was Funktionsstörungen an den durch sie versorgten Körperstrukturen (Haut, Organe, Muskulatur…) nach sich ziehen kann.

Generell führt die manuelle Behandlung zur Erregung von Rezeptoren, die Empfindungen wie Druck und Wärme an das zentrale Nervensystem weiterleiten. Diese Empfindungen konkurrieren sozusagen mit den Schmerzreizen um die Weiterleitung (gate theory) und tragen so zu einer Schmerzreduktion bei. Die meisten haben das vermutlich schon selbst angewendet und sich intuitiv das Hautareal gerieben, wenn Sie sich irgendwo gestoßen haben. Eine stärkere manuelle Manipulation kann zentral zu einer Ausschüttung von körpereigenen Neurotransmittern führen, die entspannend und schmerzreduzierend wirken. Gleiches gilt für die Anwendung von Akupunktur. Aber auch sanfte Berührungen fördern die Freisetzung von entspannenden Neurotransmittern (z.B. Oxytocin, Serotonin).

Fazit: Der Körper ist ein sensibel aufeinander abgestimmtes System und Faszien haben daran großen Anteil. Störungen, selbst kleinere, führen als Anpassungsleistung an die neue Situation zu mehr oder weniger umfangreichen Konsequenzen in allen Bereichen. Manualtherapeuten oder Tierheilpraktiker, die diese Zusammenhänge kennen, haben ein deutlich erweitertes Behandlungsspektrum, können pathologische Abweichungen früh erkennen, noch bevor sie sich zu einem größeren Krankheitsgeschehen ausweiten, und so die therapeutische Bandbreite ganzheitlicher Behandlung in vollem Umfang nutzen.

Dozenten und Autoren ATM - Autorin Dr. med. vet. Doris Börner

Dr. med. vet. Doris Börner

Frau Dr. med. vet. Börner hat sich in ihrer eigenen tierärztlichen Praxis IUVET vor allem auf die Behandlung von chronischen Schmerzen des Bewegungsapparates und der neurologischen Rehabilitation nach Traumata bei Kleintieren und Pferden spezialisiert. Sie hat Abschlüsse in Tierchiropraktik (Certified Veterinary Chiropractor (IVCA)) und Tierakupunktur (Certified Veterinary Acupuncturist (Chi Institute Europe/IVAS)) und jahrzehntelange praktische Erfahrungen u.a. in den Bereichen Neurologie, Bewegungsapparat und Schmerztherapie.

Durch ihr Wissen und ihre Erfahrung aus klassischer Schulmedizin, Neurologie, Physiotherapie, Chiropraktik, Faszientechniken und Akupunktur und die Verbindung dieser Disziplinen behandelt sie insbesondere Bewegungsstörungen des Tieres mit einem integrativen Ansatz.

Dr. Börner ist bereits seit vielen Jahren Autorin für Fachbeiträge in Wissenschaftsjournalen, Fachzeitschriften und Tiermagazinen.

Referenzen:

Still (first published 1899): The Philosophy and mechanical principles of osteopathy, Pantianos Classics
Schleip Findley Chaitow Huijing (2014): Lehrbuch Faszien, Urban&Fischer, 1. Ausgabe
Pusey Brooks Jenks (2010): Osteopathy and the treatment of horses, Wiley-Black 1st Edition
Wanacura-Kampik (2017): Segment-Anatomie, Elsevier 3. Auflage

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