Stress macht krank – stimmt das auch für Tiere?

Katze im Stress
Stress macht krank – stimmt das auch für Tiere?

Es stimmt, Stress kann krank machen, sehr sogar. Uns ebenso wie unsere Tiere. Obwohl er objektiv betrachtet erst einmal gesund hält. Dazu später mehr. Richtig ist, dass Stress, der auf einen Organismus einwirkt, vom Körper mit einer Stressreaktion beantwortet wird. Wie Stress empfunden wird und wie Körper und Seele damit umgehen, ist allerdings extrem variabel, oft sogar widersprüchlich. Aber wenn es kein Entrinnen gibt, setzt der Dauerstress Reaktionen in Gang, die sich auf jeden Fall schädlich auswirken.

Der Job fordert vollen Einsatz, der Chef spinnt, die Kinder sind krank, finanziell ist es knapp und die Beziehung kriselt: Stress pur. Am liebsten würden wir weglaufen oder uns verkriechen. Stattdessen bekommen wir einen Burnout, eine schlimme Infektion, die Muskeln schmerzen chronisch. Und obendrauf kommen noch Magenschmerzen.

Was negativer Stress mit uns macht, wissen wir. Schön geht anders. Aber wie reagieren Tiere auf Stressfaktoren, genauer: auf negativen Stress? Was machen falscher Umgang, schlechte Haltungsbedingungen, permanente Unter- oder Überforderung mit ihnen? Was der Stress, der entsteht, wenn sie täglich menschlicher Willkür ausgesetzt sind? Tiere in menschlicher Obhut haben wenig Einfluss auf das, was mit ihnen geschieht. Fehlende Selbstwirksamkeit ist eine wichtige Zutat für die Entstehung von negativem Stress.

Nice to know: Die positiven Seiten von Stress

Neutral betrachtet sind Stressreaktionen eine physische und psychische Anpassung des Körpers an innere und äußere Belastungen und Veränderungen. Dazu gehören Freude, Sport und positive soziale Kontakte ebenso wie Angst, Überlastung oder Schmerz. Ohne Stressreaktion des Körpers wären Säugetiere nicht überlebensfähig. Heilungsprozesse kämen nicht in Gang und wir würden bei Bedrohung weder kämpfen können noch fliehen, weil wir dazu keine Energie hätten.

Der Zweistufenplan der Stressreaktion

Die Regulierung der Stressreaktionen ist kompliziert. Um zu verstehen, warum zuviel Stress überhaupt schädlich sein kann, wo er doch eigentlich ein Lebenselixier ist, müssen wir uns ansehen, was im Körper dabei vorgeht, jedenfalls soweit es für ein Verständnis notwendig ist.

Hütehund mit Schafen
Hütearbeit erzeugt zwar Stress beim Hund, aber keinen Dauerstress, der belastet. Die Stressreaktion ermöglicht vielmehr schnelles Reagieren auf das Verhalten der Schafe ©Couleur/Pixabay.

Wie wir reagieren gestresste Haustiere, Tiere allgemein, physiologisch nach einem Zweistufenplan. Melden die Sinne eine  auffällige Veränderung, wird zunächst die Sympathikus-Nebennierenmark-Achse (siehe Kasten) aktiviert, die Hormone Adrenalin und Noradrenalin werden freigesetzt. Sie lassen Blutzuckerspiegel und Blutdruck ansteigen, die Blutgefäße verengen sich, das Herz schlägt schneller, die Lungenleistung steigt, die Sinne sind fokussiert auf die vermeintliche Gefahrenquelle. Die beiden Hormone mobilisieren das berühmte Plus an Kraft und Energie, das bei Bedrohung oder im Wettkampf plötzlich abgerufen werden kann. Bildlich gesprochen könnte man sagen: Noradrenalin und Adrenalin verleihen Flügel für die Flucht und Kraft für den Kampf.

Nice to know: Stressachsen 

Es gibt zwei Reaktionen auf Stressauslöser im Körper. Sie werden als Stressachsen bezeichnet. Die schnelle „Notfall-Reaktion“und die zeitlich versetzte und langsamere „Anpassungsreaktion“. Beide werden nach den beteiligten anatomischen und funktionalen Strukturen des Körpers benannt. Erstere als Sympathikus-Nebennierenmark-Achse. Der Sympathikus ist der Teil unseres Nervensystems, der für (erhöhte) Leistungsbereitschaft sorgt.  Das Nebennierenmark ist Teil des Sympathikus. Hier werden Noradrenalin und Adrenalin auf Vorrat produziert.

Die zweite und nachgeschaltete Stufe ist die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse. Aufgrund der ersten Stressreaktion sorgt der Hypothalamus, eine Hirnregion ungefähr in der Mitte des Kopfes, für die vermehrte Ausschüttung einiger Botenstoffe aus der Hypophyse, einer Drüse unterhalb des Hypothalamus. Die Botenstoffe bewirken in der Nebennierenrinde eine erhöhte Produktion von Cortisol. 

Die Wirkung der beiden „Erste Hilfe“-Stresshormone lässt schnell nach. Innerhalb weniger Minuten fährt das System wieder runter auf Normalfunktion. Allerdings nur, wenn der Stressreiz verschwindet. Dauert die Situation an, wird die zweite Stufe der Stressreaktion zugeschaltet (Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinde-Achse). An die Stelle von Adrenalin und Noradrenalin tritt Cortisol. 

Das bei Stress vermehrt produzierte Hormon mobilisiert weitere Energiereserven des Körpers, vor allem durch den Umbau von Fettdepots in verfügbare Energie. Der Energiestoffwechsel nimmt Fahrt auf, und dem Körper steht für die Bewältigung anhaltender Stressbelastung über längere Zeit zusätzliche Energie zur Verfügung. Maximal so lange, bis alle verfügbaren Reserven erschöpft sind. 

Diese an sich lebensnotwendige Antwort des Körpers auf Stressreize wird durch die negative Langzeitwirkung der Hormone teuer erkauft, weil sie sich bei andauerndem, nicht zu bewältigendem Stress gegen den Organismus selbst wendet. Hier beginnt die krankmachende Wirkung von Stress. 

Tierheimhunde im Stress
Langzeit-Aufenthalt in einem überfüllten Shelter bei schlechten Bedingungen ist Dauerstress, der oft gesundheitliche Schäden nach sich zieht  ©PAWSS-Pixabay

Wie empfindlich ein Organismus auf Stress reagiert, hängt ab 

  • von der genetischen Voreinstellung 
  • von den Trächtigkeitsbedingungen des Muttertieres. Eines im Dauerstress bekommt stressanfälligeren Nachwuchs als ein entspanntes. Zu viele Stresshormone im Blut der Mutter bewirken bei den Embryos eine Veränderung des Gehirns. 
  • von Lernerfahrungen. Dabei geht es nicht um Stressfreiheit, sondern darum, Strategien zur Stressbewältigung zu lernen. Dazu braucht es immer wieder moderate oder kurzfristig auch größere Stressreize, die sich bewältigen lassen. Kurz: Ein stressfreies Leben macht anfällig für Stresserleben

Negative Folgen einer hohen Stressbelastung

Noradrenalin
Akute Stressreaktion
Im Zustand erhöhter Alarmbereitschaft bewirkt es eine größtmögliche Reaktionsflexibilität (z.B. für Entscheidungsfindung zwischen Flucht, Verteidigung, Verstecken…) und Fokussierung auf den Stressauslöser. Zuviel Noradrenalin führt unter anderem zu Bluthochdruck, Schweißausbrüchen und Herzrasen. 
Adrenalin
Akute Stressreaktion
Steigert die Herzfrequenz, erhöht Blutdruck und Gefäßtonus, steigert den Abbau von Glucose (Zucker) und Fett. Zuviel Adrenalin führt unter anderem zu Bluthochdruck, Schweißausbrüchen, Kopfschmerzen und Herzrasen.
Cortisol
Anpassungsreaktion
Cortisol hat viele Aufgaben. Bei Stress sorgt es unter anderem durch Abbauprozesse für die Bereitstellung zusätzlicher Energie.   Eine hohe Cortisolproduktion aufgrund von Stressbelastung schwächt unter anderem das Immunsystem, hemmt Entzündungsreaktionen, beeinflusst die Zusammensetzung des Blutes, verengt die Blutgefäße, und behindert die Neubildung von Gewebe (verzögerte Wundheilung).

Stress, der krank macht

Ist ein Organismus nicht in der Lage oder wird ihm die Möglichkeit genommen, angemessen mit Stressoren umzugehen, hat das Konsequenzen für die Gesundheit. Stressoren für unsere Tiere können sein:

  • schlechte Haltungsbedingungen
  • Bedrohung und Gewalterleben
  • Hilflosigkeit
  • fehlende Verhaltensstrategien zur Stressbewältigung
  • psychische Belastungen 
  • Unter- und Überforderung 
  • chronische Schmerzen
  • Krankheit
  • Befindlichkeitsstörungen
  • Hunger
  • fehlende Sozialkontakte
  • Durst und vieles mehr

Sie verhindern bei dauerhafter Einwirkung eine Rückkehr zur physiologischen Normalität. Chronischer Stress baut sich auf, der Gehalt an Stresshormonen im Blut bleibt dauerhaft erhöht und wirkt sich negativ auf die seelische und körperliche Gesundheit aus.

In den Ausbildungen der ATM  und in denen unserer Partnerakademie ATN   ist Stress bei Tieren in all seinen Facetten ein wichtiges Thema. So wichtig, dass ihm 2022 ein ganzer Kongress mit internationalen Experten gewidmet wurde.

Vergemeinschaftung von Zootieren
Milde Stressreize durch Vergesellschaftung, die nicht bedrohlich ist, vertreiben Zootieren Langeweile, die zum Dauerstress werden kann. ©Patricia Lösche

Zootiere

Die in Zoos immer häufiger anzutreffende Vergesellschaftung unterschiedlicher Arten ist nicht stressfrei für die Tiere. Ob dieser Stress negative oder positive Auswirkungen auf die Individuen hat, hängt von vielen Faktoren ab: Den Stresstypen, der Intensität der Stressoren, den Möglichkeiten zur Gewöhnung oder Möglichkeiten des Stressabbaus oder der Stressvermeidung (z.B. durch Schaffung von Rückzugsbereichen). Werden diese Faktoren individuell beachtet, können Stressoren zu einer Umwelt beitragen, die die Tiere nicht nur fordert, sondern fördert.

Psychosomatosen und psychische Beeinträchtigung durch Stress

Körper und Psyche sind nicht zwei getrennte Systeme in einem Organismus. Sie beeinflussen sich permanent gegenseitig. Psychosomatosen sind körperliche Erkrankungen, die durch seelische Belastungen entstehen. Beim Menschen sind negative Auswirkungen von Stresserleben auf die Psyche gut untersucht. Emotionaler Stress begünstigt bei uns unter anderem Erkältungs- und Infektionskrankheiten wie AIDS, Herpes labialis (Glaser & Kiecolt-Glaser, 1988; Schmidt et al., 1985), Grippe und Probleme mit dem Magen-Darm-Trakt (Förger, 1997; Köller, 2014). Wenn Hund, Katze und andere Tiere dauerhaft unter Stress stehen, werden sie ebenfalls häufiger krank. Die Erforschung psychosomatischer Erkrankungen bei Tieren steht erst am Anfang. Aber der ist vielversprechend. 

Dauerstress führt manche Menschen in eine anhaltende Depression. Auch Tiere reagieren deutlich auf psychische Dauerbelastungen. Die Entstehung stressbedingter Depressionen bei Tieren ist derzeit (2022) nicht sicher bestätigt, wurde für Pferde jedoch bereits wissenschaftlich untersucht und nicht ausgeschlossen (Fureix et al., 2021). Die Ähnlichkeit der Körpersysteme, die Deckungsgleichheit von Symptomen und das Ansprechen auf die gleichen Medikamente lassen es aber plausibel erscheinen. 

Auf jeden Fall reagieren Tiere auf Dauerstress oft mit erlernter Hilflosigkeit, Stoffwechselveränderungen und Anfälligkeiten, und sie zeigen typische Symptome einer Depression. Wie wir können Tiere Angststörungen entwickeln, vor allem nach traumatischen Erlebnissen, die immer mit hoher Stressbelastung einhergehen. 

Medical Training Seehund
Anti-Stress-Training durch Gewöhnung an notwendige Untersuchungen. Am Ende kommen die Tiere von selbst. Schließlich winkt eine Belohnung ©Sven Wieskotten

Schlaf- und Hormonstörungen durch Dauerstress

Stressreaktionen bringen Hund, Katze, Pferd und Co auf Hochtouren. Adrenalin und Cortisol sorgen dafür, dass sie keine Ruhe finden können. Andererseits kann die Erfahrung permanenter Hilflosigkeit gegenüber Stressreizen wegen fehlender Selbstwirksamkeit am Ende lethargisch machen. 

Bei Katzen kennt man das Phänomen des Verteidigungsschlafes. Sie rollen sich dabei ganz fest zusammen, schützen dadurch den Bauch und bleiben angespannt, ein Verhalten, das man auch bei Hunden beobachten kann. Diese Anspannung setzt sich bis ins Gesicht fort: Die Schnurrhaare sind eng angelegt, die Stirn zusammengezogen und auch die Augen sind nicht entspannt geschlossen, sondern zugepresst. Es sieht aus, als würden sie schlafen, tatsächlich hat eine Katze im Verteidigungsschlaf den Kontakt zur belastenden Umwelt abgebrochen, Sie schläft nicht, sie ist extrem gestresst. Wie ein kleines Kind, das sich die Augen zuhält, und meint, die Bedrohung würde dadurch verschwinden.

Das dauerhaft erhöhte Stresshormon-Niveau im Blut beeinflusst andere Hormonsysteme. Die permanente Aktivierung der Stressachsen hemmt die Produktion von Östrogen und Testosteron. Eine mögliche Folge: Unfruchtbarkeit durch Dauerstress. Ein anderes Hormon, das durch Stress vermehrt ausgeschüttet wird, ist Prolaktin. Es garantiert normalerweise den Milchfluss, kommt aber auch bei männlichen Tieren vor.  Ein hoher Prolaktin-Spiegel erhöht das Risiko einer Milchdrüsenentzündung (Mastitis). Er hemmt ebenfalls die Produktion von Östrogen und Testosteron und wirkt sich deshalb negativ auf die Fruchtbarkeit beim weiblichen wie beim männlichen Organismus aus. 

Stress und Immunsystem

Cortisol hemmt die Aktivität des Immunsystems (Immunsuppression). Der Organismus kann sich bei anhaltend hohem Cortisolspiegel schlechter gegen eindringende Viren und Bakterien verteidigen. Die Anfälligkeit unserer Tiere gegenüber Infektionskrankheiten nimmt zu, Wunden heilen schlechter, Krebs kann entstehen. Je länger der die Stressbelastung anhält, desto stärker die Beeinträchtigung des Immunsystems.

Nice to know: Cortison

Cortison, die medikamentöse Form des Cortisols, hat die gleiche Wirkung auf den Organismus. Meist als Entzündungshemmer eingesetzt (unter anderem bei Autoimmunerkrankungen und allergischen Schüben), hat es bei Langzeitmedikation auch die negativen Nebenwirkungen einer stressbedingten Erhöhung des Cortisolspiegels. 

Stress und Organerkrankungen

Psychosozialer Stress wird in diversen Studien als ein Risikofaktor für Herzkrankheiten ausgemacht (Rozanski et al., 1979). Die erhöhte Konzentration von Adrenalin, Noradrenalin oder Cortisol im Blut kann langfristig Schäden an den Blutgefäßen verursachen. Stress kann sogar die Augen schädigen bis hin zur Blindheit. 

Medical Training Hund
Medical Training beim Hund vermindert Tierarztstress, der sogar Laborergebnisse verfälschen kann ©Sven Wieskotten

Stress und Stoffwechselstörungen

Cortisol verursacht Störungen im Stoffwechsel. Das kann zu Muskelschwund (Muskelatrophie), Knochenabbau (Osteoporose), Gelenkerkrankungen (Arteriosklerose) und Diabetes führen, und es sorgt für Gewichtszunahme durch Einlagerung von Bauchfett. 

Stress und Schmerz

Schmerz ist ein Stressreiz. Gleichzeitig führt Stress zu mehr Schmerzen. Die erhöhte Konzentration von Adrenalin, Noradrenalin oder Cortisol im Blut durch ständig wiederkehrende oder andauernde Stressreize schädigt Blutgefäße. Auf Angst und Schmerz kann der Körper mit einer unnatürliche Muskelanspannung (Dysponesis) reagieren, ein Schutzmechanismus, der aber wiederum schmerzverstärkend wirkt.

Stress und Verhaltensveränderungen

Neben den physiologischen Konsequenzen von Stress können auch Verhaltensveränderungen stressbedingt sein. Häufig zu beobachten sind Unsauberkeit, starkes und häufiges Vokalisieren und übermäßiges Markieren, forciertes Hecheln, Unruhe, gesteigerte Reaktivität aber auch Passivität oder Übersprungsverhalten, bis hin zu stereotypem Verhalten und Selbstverletzung. 

Gelegentlich kommt es vor, dass Muttertiere ihre Nachkommen töten (Infantizid), sogar an- oder auffressen (Kannibalismus). Dies scheint mit extremem Stresserleben zusammenzuhängen. Unterernährung und Hunger wären nachvollziehbare Auslöser.  Aber auch andere Stressoren in der Umgebung können ein solches Verhalten begünstigen. 

Akute Stresssituationen führen zu krankhaften Veränderungen, wenn Stressoren immer wieder und für das Tier ohne erkennbare Regel willkürlich auftreten: Mal darf Bello auf das Sofa, dann wieder wird er dafür bestraft. Das Tier lernt, dass es eine Konsequenz durch sein Verhalten nicht beeinflussen kann. 

Häufige, nicht-vorhersehbare Strafreize, bei denen die Tiere keine Assoziation mit ihrem eigenen Handeln aufbauen können, führen schließlich zu massiven Verhaltensänderungen: 

  • mangelnde Motivation zu willentlichem Handeln
  • ausgeprägte Passivität (im Zweifel macht das Tier nur, was ihm „befohlen“ wird)
  • mangelnde Tendenz zu Eigeninitiative
  • wenig bis keine eigenen Problemlösungsversuche
  • wenig bis keine Kommunikationsversuche
  • keine Selbstverteidigung
  • kein Fluchtverhalten
  • schnelles bis sofortiges Aufgeben bei Widerstand. 
Hundegruppe
Die Stresssituation einer Begegnung mit fremden Hunden kann und sollte den meisten Hunden zugemutet werden. Manche brauchen dafür gezieltes Training ©Patricia Lösche

Stress und Unterforderung

Unterforderung ist eine massive Stressbelastung, die physische wie psychische Veränderungen hervorrufen kann. Anhaltende und starke Unterforderung kann aufgrund des entstehenden Stresses eine Erhöhung der impulsiven Aggressivität bewirken. Außerdem den Verlust der Impulskontrolle, Depressionen, chronische Erschöpfung, und Schläfrigkeit (Somnolenz).

Der Körper kann angemessene Reaktionen auf Stressbelastung verlernen. Ein Immunsystem, das nicht gefordert wird, kann Infektionen nicht mehr so gut bekämpfen. Es kann zu einer verzögerten Wundheilung und gehemmter Immunisierung kommen. Wie bei der stressbedingten Überforderung kann der Stoffwechsel auch bei einer Unterforderung, die als Stressor erlebt wird, beeinträchtigt werden, bis hin zum Tod durch Schäden am Herz-Kreislaufsystem.  

Fazit

Stressreaktionen sind eine Anpassungsleistung. Ist eine Anpassung nicht möglich, bleibt der Stress bestehen und chronischer Stress entsteht. Neben individuellen Eigenschaften des jeweiligen Organismus spielen eine ganze Reihe von Faktoren eine Rolle dafür, wie Stress beantwortet wird. Dazu gehören Art der Stressoren, Intensität und Dauer des Stressreizes, wiederholtes Vorkommen, Möglichkeiten der Gewöhnung an Stressoren, Anpassungsfähigkeit und Persönlichkeit des Individuums und vieles mehr.

Die gute Nachricht ist: Die Fähigkeit, mit Stress fertig zu werden, auch mit lange anhaltendem, ist erlernbar, wenigstens teilweise. Der Organismus muss sich dafür aktiv mit unterschiedlichen Stressoren auseinandersetzen dürfen, um diese entsprechend einordnen und neu bewerten zu können. 

Die Kunst liegt also nicht darin, unseren Haustieren jeden Stress vom Hals zu halten. Es geht vielmehr darum, Stressbelastungen erträglich zu machen. Sei es durch langsame Gewöhnung (beispielsweise bei Geräuschangst  und Medical Training) oder aber dadurch, dass wir moderaten Stress dulden und dem Tier die Gelegenheit geben, wenn möglich Selbstwirksamkeit zu erfahren, eigene Gegenstrategien zu entwickeln, statt es zu zwingen, dem Stress auf unsere Art zu begegnen.

Übrigens: Das Gesagte kann auch auf den Menschen übertragen werden.

Dr. rer.nat. Sven Wieskotten

Dr. rer. nat. Sven Wieskotten ist promovierter Biologe. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Ruhr-Uni Bochum und der Universität Rostock  forschte er zur Leistungsfähigkeit von Sinnessystemen bei Robben. Seine Arbeit mündete in einer Vielzahl wissenschaftlicher Publikationen und Fachvorträge. 2016 machte er sich selbstständig und gibt seitdem sein Wissen über die Tierhaltung, Tierbeschäftigung und das Tiertraining an Tier- und Hundetrainer, sowie an Zoos, Tierärzten und Universitäten weiter.

Seit 2016 ist er als Autor, Tutor und Dozent in diversen Lehrskripten und Lehrgängen an der ATN tätig und war dort an der Entwicklung des Lehrgangs „Tiertrainer“ beteiligt. Der Fokus seiner Arbeit liegt dabei auf der Integration wissenschaftlicher Lerntheorien in die Praxis. Ganz wichtig sind ihm dabei die Anpassungen der Methoden an die jeweiligen Tierarten und Individuen, um stets das tiergerechte und zielführende Training zu optimieren. Sven Wieskotten lebt mit seiner Frau, zwei Kindern und Hund in Rostock an der Ostsee.

Mitarbeit an diesem Artikel: Patricia Lösche

Quellenauswahl

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